Oliver Thiel schreibt mir Mails. Regelmäßig und beharrlich, über die Jahre ist da einiges zusammengekommen. Im Schnitt bekomme ich jeden Monat Post von Oliver Thiel, manchmal sind es zwei oder mehr Mails im Monat, dann höre ich wieder wochenlang nichts von ihm. Was er mir zu sagen hat, ist meist belanglos ("Seit Ihrem letzten Besuch auf der Freunde-Suchmaschine StayFriends ist viel passiert"), manchmal überraschend ("David, Sie haben neue Mitschüler!"), selten hilfreich ("Passwort für StayFriends") und mitunter bizarr ("David, fordern Sie Alexander Krusche heraus"), zuweilen bringt Oliver Thiel mich sogar zum Nachdenken ("David, wer sind Sie?"), aber es läuft eigentlich immer drauf raus, ob ich nicht ein Gold-Mitglied von Stayfriends werden will. Will ich aber nicht.
15 Euro für drei Monate kostet das derzeitige Einsteigerangebot für das Schulfreunde-Netzwerk, das ist mir der Spaß nicht wert. Die Nachteile meiner kostenlosen Basismitgliedschaft nehme ich in Kauf, obgleich es deren einige sind. Ohne Gold-Status werden mir beispielsweise die Namen der Besucher meines Profils nicht verraten, aus den dazugehörigen Fotos kann ich auch wenig entnehmen, weil sie verwischt worden sind. Ohne Gold-Mitgliedschaft kann ich nicht einmal die Nachrichten lesen, die in meinem eigenen Stayfriends-Postfach hinterlassen worden sind. Oliver Thiel schreibt mir dann Mails wie "David, was steht in Ihrer Nachricht?". Weiß ich auch nicht. Seit dem 31. Mai 2005 wartet eine Nachricht von Christine Metz darauf, von mir gelesen zu werden, woran mich Oliver Thiel ab und zu erinnert. Christine, vielleicht sagst du's mir einfach mal so.
Das Schlimmste ist, daß ich Oliver Thiel nicht traue, und das nicht nur, weil hinter seiner Kontaktfreudigkeit kaum verhohlene kommerzielle Absichten stecken. Oliver Thiel lügt mich an. Er beharrt darauf, ich wäre an der Schule in einem Jahrgang mit Alessandro Aldini gewesen. Ich kenne niemanden mit diesem Namen. Oliver Thiel behauptet auch, Petra Zwiorek gehöre zu den Personen, die ich kennen könnte. Was bezweckt er damit? Wer ist Petra Zwiorek?
Bis vor ein paar Tagen habe ich Oliver Thiel sogar so wenig getraut, daß ich mich ernsthaft gefragt habe, ob es ihn überhaupt gibt. Gut, ich bekomme Mails von ihm. Aber mich rufen auch Automaten an und gratulieren mir herzlich zu irgendwelchen erfundenen Gewinnen. Und an Clementine und "Sie baden gerade Ihre Hände drin"-Tilly glaube ich auch schon lange nicht mehr. (Bei Dr. Best bin ich mir nicht ganz sicher.) Frage ich Google nach Oliver Thiel, bekomme ich Ergebnisse wie "Wer ist eigentlich Oliver Thiel?" und Fotos von den verschiedensten Leuten. Auf Stayfriends selbst sind fünfunddreißig Personen mit Namen Oliver Thiel registriert. Ist das Tarnung? Dient es zur Verwirrung? Ein großangelegter Turing-Test? Aber jetzt ist alles anders.
Zuerst einmal für Stayfriends selbst. Es gab Zeiten, da hat mir diese Firma die schönste
Google-Onanie versaut. Ich konnte das Internet mit klugen Sachen vollschreiben, wie ich wollte; was Google an meiner Person erwähnenswert fand, war vor allem der Umstand, daß ich vor vielen Jahren das Graf-Rasso-Gymnasium in dem beschissenen Kaff Fürstenfeldbruck besucht habe. Heute muß ich Stayfriends-Seiten unter den Google-Ergebnissen mühsam suchen. Ich kann versichern: An meinem überwältigenden Output liegt's nicht. Im Facebook-Zeitalter steht eine Einrichtung zur Pflege von Schulkontakten mittlerweile ziemlich altbacken da, das weiß auch Google, mit oder ohne Plus.
Ich vermute, es war die Furcht vor der völligen Bedeutungslosigkeit, die Oliver Thiel dazu gebracht hat, jetzt alles auf Risiko zu setzen. Am 22. Oktober bekomme ich nach all den Jahren die erste Mail von Oliver Thiel, die mich wirklich elektrisiert: "Oliver Thiel fordert alle Mitglieder heraus"! Alleine gegen den Rest der Welt! Dabei ist das noch gar nicht das Bemerkenswerteste, schließlich will er bei näherer Hinsicht nur Stein-Schere-Papier spielen. Nein, Oliver Thiel wagt es endlich, er gibt alles, er lüftet das Geheimnis, er ... zeigt ... sein Gesicht!!
Leider, leider: Ich weiß nicht, ob das ein kluger Schachzug war. Es war immer zuerst das Mysterium Oliver Thiel, das Rätsel um seine Person, das mich dazu gebracht hat, seine zahlreichen Mails auch wirklich zu lesen. Nun aber denke ich nur: Ach, der war das die ganze Zeit? Hm ... naja ... ach so.
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25.10.2011, 23:22 • Link • 18 Kommentare