Wenn es aber hake, sagt Relotius, wenn er nicht weiterkomme, wenn er nicht zu einer Geschichte finde, dann beginne er zu fälschen. Dann schreibe er gefälschte Sätze hin und lasse sie stehen, und er finde sie teilweise selbst so dreist, so lächerlich, dass er während des Schreibens zu sich sage:
"Come on! Im Ernst jetzt? Damit kommst du niemals durch!"
(
Spiegel online: "SPIEGEL legt Betrugsfall im eigenen Haus offen")
Die preisgekrönte Relotius-Reportage "
Königskinder" über zwei syrische Waisenkinder, die aus Aleppo in die Türkei geflohen sind, beginnt so:
An einem frühen Morgen in diesem Sommer geht Alin, ein Mädchen mit müden Augen, 13 Jahre alt, allein durch die noch dunklen Straßen der Stadt Mersin und singt ein Lied. (...)
Es waren einmal zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, so heißt es im Lied, die hatten alles verloren, ihre Eltern, ihr Haus, ihre Heimat. Sie kamen aus einer alten Stadt, und als ein Krieg über ihr Land hereinbrach, flohen sie in eines fernes Reich.
Später im Text heißt es:
In Alins Vorstellung ist Europa eine kleine Insel, umgeben vom Meer, "irgendwo im Norden". Und in ihren Träumen, so erklärt sie, ist Angela Merkel keine Dame im Hosenanzug, sondern eine junge Frau mit weißem Gewand, seifenglatter Haut und langen, goldenen Haaren.
Es ist das eine, sich sowas auszudenken. Das andere ist es, eine solche Schmonzette in verschiedensten Stufen der Abnahme durchzuwinken und dann noch in den redaktionellen Anreißer den Satz aufnehmen: "Manchmal, im Traum, erscheint ihnen Angela Merkel".
Als Redakteur, als Ressortleiter, der solche Texte frisch bekommt, spürt man zuerst nicht Zweifeln nach, sondern freut sich über die gute Ware.
(
Spiegel online: "SPIEGEL legt Betrugsfall im eigenen Haus offen")
Für die
Spiegel-Rubrik "Eine Meldung und ihre Geschichte" durfte Claas Relotius sich auch im journalistischen Subgenre "Flüchtling findet Geld und erweist sich als ehrlicher Finder"
betätigen. Die
Meldung ist wahr, das ist tatsächlich passiert. Die
Geschichte geht so:
Für einen Augenblick, sagt Abdullah, glaubte er an Glück, an ein Zeichen, dass Gott ihm helfen wollte. Er stellte sich vor, was sich mit so viel Geld anfangen ließe, aber dann, so erzählt er, dachte er an den Menschen, dem es gehörte, und daran, wie es sich anfühlt, alles, was man hat, zu verlieren. "Keiner", sagt Abdullah, "kennt dieses Gefühl so gut wie ich." (...)
Mahmoud Abdullah hat seine Heimat verloren, seine Freunde, seine Arbeit und sein Haus, aber er sagt, er habe sich nie reicher gefühlt als in diesem Moment.
Sehr erhellend ist es dabei, was Relotius für "Cicero" und "NZZ am Sonntag" abgeliefert hat: "Krieg, Blutrache, patriarchale Geschlechterbilder – das sind genau die Klischeethemen, die viele mitteleuropäische Leser und Redakteure mit dem Balkan verbinden" (
Übermedien). Heißt: Relotius hat genau gewußt, was der jeweilige Auftraggeber von ihm erwartet und hat das dann ganz professionell geliefert. Für den Cicero: wilde Balkanesen. Für den
Spiegel – hemmungslosen Kitsch.
Abgelegt unter: Agitprop
31.12.2018, 14:10 • Link • Kommentieren