Was bestimmten marginalen Gruppen "Anerkennung" zu verschaffen vorgab, wurde in Wahrheit immer mehr zu einer Waffe zur Deklassierung anderer: Indem man sich "gegenderter" Sprache, bestimmter entsprechender "Schlagworte" oder Abkürzungen wie "LGTBQ+" bediente, konnte man zeigen, dass man etwas Besseres war als andere. Diejenigen hingegen, die nicht wussten, wie sie ihre Miete, eine Zahnreparatur oder den Schulausflug ihrer Kinder bezahlen sollten, und denen Probleme der Zwischengeschlechtlichkeit eher nicht als dringendste Prioritäten erschienen, konnten nun zusätzlich zu ihrem ökonomischen Niedergang bequem als Rassisten, Sexisten, Islamophobiker oder Ähnliches diffamiert werden.
(Robert Pfaller im Interview, Dummy 60: 21)
Vielleicht ist es Masochismus, vielleicht die Lust am Schaudern: Ich lese gerne die Kommentare unter Online-Artikeln. Natürlich gibt es dort auch kluge Kommentare – mitunter sind die Kommentare sogar klüger als der Artikel drüber (taz, ich sehe DICH an) –, aber halt schon wirklich, wirklich viele dämliche. Dabei gibt es Gesetzmäßigkeiten. Beispielsweise dauert es bei bestimmten Themen maximal so lange, wie man sich Popcorn holen kann, bis irgendein Depp auftaucht, der dem Internet mitteilen möchte: "Was soll das? Wir haben nun wirklich wichtigere Probleme! Armes Deutschland!!1!" (sinngemäße Wiedergabe).
Meistens hat der Depp sogar recht. Das Problem ist nicht, daß die Aussage falsch wäre, das Problem ist, daß sie trivial ist. Es gibt immer wichtigere Probleme, ausgenommen solche, die die Erhaltung des Lebens auf diesem Planeten betreffen. Nun wird aber niemand etwa von einem kommunalen Verkehrsausschuß, der sich mit Straßenmarkierungen beschäftigt, verlangen, er möge sofort fridays-for-future-mäßig die Arbeit niederlegen, um gegen den Klimawandel zu protestieren. Das kann man machen, um "ein Zeichen zu setzen", wie es so schön heißt, davon werden die Radwege aber auch nicht breiter.
Die Frage ist, wieviel Ressourcen – Zeit, Arbeitsenergie, Aufmerksamkeit usw. – man welchem Themenfeld zukommen läßt. Im schlimmsten Fall behindert man sogar mit der Beschäftigung mit Thema A aktiv die Arbeit an einem tatsächlich wichtigeren Thema B. Dazu braucht man nicht mehr als ein Gendersternchen.
Ich war nie ein großer Freund des Binnen-I. Ich habe es verwendet, wenn ich mußte, aber ich mochte es nicht sonderlich, weil es mir in seiner Künstlichkeit als untauglicher Weg erschien, etwas an den realen Verhältnissen zu verändern. Immerhin habe ich den Punkt gesehen. Über die Hälfte der Bevölkerung sind Frauen, da ist es durchaus ein berechtigtes Anliegen, diesen Umstand stärker in das öffentliche Bewußtsein zu rücken. Das Gendersternchen wiederum hat den Zweck, die Sichtbarkeit von Personen mit einer nicht-binären Geschlechtsidentität zu erhöhen. Schwer zu sagen, wieviele das sind, aber ihr Anteil an der Bevölkerung dürfte sich auf jeden Fall im Promillebereich bewegen.
Ich finde das obszön angesichts der Tatsache, daß laut
Statistischem Bundesamt der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland im Jahr 2015 bei 22,6 Prozent lag.
Ein knappes Viertel der Beschäftigten arbeitet im Niedriglohnsektor. Die Sichtbarkeit dieser Gruppe in der öffentlichen Wahrnehmung scheint aber niemandem besonders am Herzen zu liegen. Uns geht 's ja gut.
Es gab vor einiger Zeit den Versuch, nach #metoo und #metwo mit dem Hashtag #unten auch mal sozial Schwache zu Wort kommen zu lassen, aber selbst das stand unter dem
Motto: "Kein Diversity-Konzept ist vollständig ohne die Dimension der sozialen Klasse". Als ob Armut ein bewahrenswerter Teil der bunten Vielfalt der Gesellschaft wäre! (Oder, um einen der
klugen Leserkommentare zu zitieren: "Klassenkampf ist eben kein Teil eines 'Diversitykonzepts', sondern das Resultat der Erkenntnis, dass Lohnarbeit ein schlechtes Mittel zum Lebensunterhalt ist".)
Entsprechend waren
die Reaktionen: Der neue Hashtag sei eine Sauerei und müsse wieder weg, weil: Das lenkt nur ab von Diskriminierung aufgrund von angeborenen Merkmalen, und die ist ja
viel schlimmer. Die kann man nämlich nicht ändern, den sozialen Status aber schon. Man muß sich halt einfach mehr anstrengen.
Das ist die neue Linke in a nutshell: FDP plus Idiotie.
Es scheint also nicht ganz so einfach zu sein, das eine zu tun – Politik auch noch für die winzigsten Minderheiten –, ohne das andere – den Kampf für eine sozialere Gesellschaft – zu lassen. Mehr noch: Die Vehemenz, mit der identitätspolitische Themen in den Vordergrund gestellt werden, verdeckt auch in der Außenwahrnehmung (also: außerhalb des Elfenbeinturms) originäre linke Positionen bis zu dem Punkt, daß mancher
ganz erstaunt ist, daß "Links" irgendwie auch mit Ökonomie zu tun hat. Wenn Linke nur noch als intersektionale Irre, als "die mit dem Gendersternchen" wahrgenommen werden, ist der Kampf wirklich verloren.
Einigen ist das sicher ganz recht.
Abgelegt unter: Agitprop
10.03.2019, 16:42 • Link • Kommentieren