Auf Stefan Niggemeiers
altem Blog gab es einen wunderbaren Kommentator, der sich auf Antisemitismus-Vorwürfe spezialisiert hatte. Beispielsweise so (ich paraphrasiere):
X: Es ist eine Sauerei, daß die Reichen das ganze Geld haben, das den Armen fehlt.
L: Aha! Jeder weiß doch, daß die Juden das ganze Geld haben. Deswegen ist es antisemitisch, was du sagst. Geh weg!
Nach meinem Gefühl wäre zwar eher die Vorstellung, die Juden hätten das ganze Geld (genauer: Wer von finanzkapitalistischer Ausbeutung spreche, meine damit ja wohl zwangsläufig eine jüdische Veranstaltung), antisemitisch und nicht die Forderung nach einer gerechteren Vermögensverteilung, aber was weiß ich schon. Die Position von X nennt man übrigens auch
strukturellen Antisemitismus. Juden sind dazu gar keine mehr nötig. Moderne Zeiten.
Wenn
Schlagwörter den Diskurs ersetzen, ist das schon übel genug, und daß diese Haltung langsam Besitz von meiner
eigenen Seite des politischen Spektrums nimmt, macht's nicht besser, im Gegenteil. Es kommt aber noch etwas Zweites hinzu:
"Die Frage danach, wie sich gesellschaftlicher Wohlstand gerecht verteilen lässt, war ja seit jeher der Wesenskern linker Politik. Und der ist unter jungen Linken heute fast gänzlich in den Hintergrund getreten. Stattdessen dominieren kulturelle und identitätspolitische Themen, über die sich junges Linkssein heute definiert. Das zentrale progressive Anliegen ist mittlerweile die unbedingte Gleichstellung von Minderheiten" (
Wolfgang Merkel).
Da scheint mir was dran zu sein. Und ja, ich bin da oldschool. Müßte ich wählen, wäre mir die Expropriation der Expropriateure immer noch wichtiger als das Gender-Sternchen. Vielleicht macht mich das heutzutage schon zu einem Nazi, das weiß man leider nicht mehr so genau. Was ich aber weiß: Dort, wo die Lifestyle-Linke ihre Wurzeln nicht nur vergißt, sondern verrät, mach ich nicht mehr mit.
"Man erließ in Oberlin Richtlinien – sie wurden inzwischen zurückgezogen –, nach denen auch soziale Privilegierungen, auf gut Deutsch: Klassenverhältnisse, zum Tabu wurden, weil sich jemand von der allzu lebhaften Darstellung an die eigene Unterprivilegierung erinnert und damit verletzt fühlen könnte. Dem Lehrkörper wurde empfohlen, solche Literatur nicht mehr zu unterrichten und, wenn es sich nun einmal nicht vermeiden lasse, die Lektüre den Studenten freizustellen. Es soll nicht mehr anders werden und besser, sondern das Schlechte soll nicht einmal mehr ausgesprochen werden, auf dass niemand verstört werde" (Die "
FAZ" über das amerikanische Hochschulwesen).
Inwieweit es – Gott bewahre – verletzend sein kann, sich mit etwas auseinanderzusetzen, ist nochmal eine ganz andere Frage. Aber mühsam kann es definitiv sein, Gedanken nachzuvollziehen, Argumentationen zu rekonstruieren, sich mit den Mitteln der Logik daran abzuarbeiten und sie begrifflich sauber zu durchdenken. Hat man trotzdem als Linker früher so gemacht (Habermas, anyone?), weil es die Anstrengung häufig wert war.
Kommentator/in "LLLU" hat es mit dieser Herangehensweise auf dem Niggemeier-Projekt "Übermedien" versucht, und zwar (a) im Jahr 2016 und (b) in zwei Diskussionen zum Thema "Rassismus". Man ahnt bereits: Großer Fehler.
Abgelegt unter: Agitprop, Schmerzen
06.11.2016, 19:11 • Link • Kommentieren