Ich hab's immer gewußt: Es lohnt sich doch, alte Zeitungen zu lesen, und seien es nur die von vor ein paar Tagen. Zwar macht das Geschrei der letzten Wochen nach noch mehr Videoüberwachung, Verbindungsdaten- und E-Mail-Speicherung, Zentraldateien und endlich auch "schärferer Kontrolle des Internets" (FR 24.08.2006:1, 4) auch im Rückblick keinen Spaß, aber wenn man genau sucht, kann man hier und da erstaunliche Perlen der Vernunft entdecken. So dürfte sich der interessierte Leser, dem bereits der stramme Marsch in den Polizeistaat reichlich faschistoid vorkommt, über die Warnung des "Ethikverbandes der Deutschen Wirtschaft" vor einem "um sich greifenden Faschismus in der Wirtschaft" erst recht freuen: "Das Wesen des Faschismus sei es, ein System für schützenswerter zu halten als die darin lebenden und arbeitenden Menschen (...). 'Bisher haben wir uns in der Bundesrepublik erfolgreich gegen politischen Faschismus gewehrt, nun scheint ein ökonomischer Faschismus genau dort um sich zu greifen, wo Unternehmen den wirtschaftlichen Erfolg über jede redliche Form des sozialen Miteinanders stellen'" (FR 15.08.2006:10).
Die zombieartig aus der Frühzeit der Industrialisierung wiederkehrenden Debatten über Arbeitnehmerrechte, Mindestlohn, Jugendschutz in der Arbeit etc. fügen sich in diese Perspektive natürlich bestens ein. Eine "redliche Form des sozialen Miteinanders" gerät aber nicht nur innerhalb von Firmen unter die Räder, wie etwa der kreuzdumme Satz "Die vorzeitige Stilllegung der sicheren Kernkraftwerke in Deutschland läuft auf eine irreversible Schädigung des Standorts Deutschland hinaus" (Positionspapier von neun unionsgeführten Ländern, FR 23.08.2006:4) zeigt. Wir erinnern uns: Kernkraft ist eine Hochrisikotechnologie, die potentiell die Gesundheit jedes einzelnen Bürgers gefährdet. Wir erinnern uns ferner: Es geht gerne mal was schief, nicht nur potentiell, zum Beispiel in einem ganz, ganz sicheren schwedischen Kraftwerk, wo ein ganz, ganz sicheres Bauteil versagt hat, das auch in ganz, ganz sicheren deutschen Anlagen verbaut ist. Alles scheißegal, der
Joker "Standort" schlägt alles. (Übrigens: "Die Kieler Atomaufsicht bestätigte Sicherheitsmängel am AKW Brunsbüttel, um dessen Laufzeitverlängerung gekämpft wird. 'Brunsbüttel entspricht nicht dem Stand modernster Sicherheit und Technik' und weise eine 'Reihe von Abweichungen' auf, räumte das Sozialministerium ein. Jedoch sei kein Punkt so gewichtig, 'dass er ein unmittelbares Abschalten des Reaktors erfordern würde'".)