Eltville/Mainz – Aus Verärgerung über den neuen Fahrplan hat ein 50-jähriger Bahnkunde am Montagabend in Eltville den Zugverkehr blockiert. Wie die Bundespolizei am Dienstag in Mainz mitteilte, legte er sich auf die Schienen, nachdem er zuvor laut darüber geschimpft hatte, dass seine gewohnte Verbindung gestrichen worden war. Polizisten holten ihn nach einer Viertelstunde von den Gleisen, vier Züge verspäteten sich deshalb.
(FR 20.12.2006:24)
Der Student E. hatte die Angewohnheit, sich zu viele Gedanken über bestimmte Dinge zu machen. So fand es E. nur passend, daß der öffentliche Nahverkehr in seiner Heimatstadt Heidelberg – einer Stadt der Wissenschaft und der Philosophie – sich nie in der schnöden Fortbewegung von hier nach da erschöpfte, sondern immer auch über die Maßen zum Nachdenken anregte. Was genau war der Unterschied zwischen VRN und RNV, und gab es eigentlich die HSB noch? Warum wurden ausgerechnet bei der Straßenbahn zum Hauptbahnhof die ältesten, zur Beförderung von Gepäck ungeeignetsten Wagen eingesetzt, und warum war gerade diese Linie immer zu spät, wo es doch am Bahnhof besonders auf Pünktlichkeit ankam? Mit welcher Absicht wurden die Fahrpläne so gestaltet, daß es für das menschliche Gedächtnis unmöglich war, sich die Abfahrtszeiten abends und am Wochenende zu merken? War dieser Bus noch der letzte oder schon der nächste? Solcher Art waren die Fragen, die E. sich stellte, und er zermarterte seinen Geist so sehr, daß er eines Tages vor lauter Grübelei gar nicht mehr wusste, in welcher Stadt er sich überhaupt befand: Heidelberg? Mannheim? Ludwigshafen gar? Da hörte E. auf einmal eine Stimme wie Donnerhall. "Fürchte dich nicht!" sprach die Stimme. "Ab sofort gilt das Prinzip: Jeder Linie ihre Nummer. Es hilft dir, dich zu orientieren, denn im RNV-Gebiet kommt jede Nummer nur noch einmal vor. Sieh diese Straßenbahn: Sie trägt die Nummer 23, nicht 3. Du bist immer noch in Heidelberg." Und etwas leiser fügte die Stimme hinzu: "Das gemeinsame Liniennetz ist übrigens auch die Grundlage für ein gemeinsames Rechnergestütztes Betriebsleitsystem (RBL)." Diese Auskunft ließ E. stutzen, denn er neigte bekanntlich zum Nachdenken. Hätte dazu nicht auch eine interne Lösung genügt, statt gleich die Linien umzubenennen? "Aber nein", ertönte die Stimme wieder. "Glaub mir, es ist einfacher so. Und es geht dabei vor allem um die Interessen der Fahrgäste."
Als E. diese Worte noch in seinem Herzen bewegte, vernahm er ein großes Wehklagen. Er blickte auf und sah, daß sich noch einiges mehr geändert hatte: Wo einst die Busse 41, 42 und 33 verkehrten, fuhr jetzt nur noch der Bus 33, der aber auch die früheren Linien 31 und 11 abdeckte. Dem Bus Nummer 12 war es gar schlecht ergangen, wie auch die Nummer 21 ihren alten Namen nicht mehr tragen durfte, und ähnliche Grausamkeiten mehr. Große Verwirrung herrschte überall, und die Menschen waren verzweifelt. "In einem Monat hat sich das alles gesetzt. Nur etwas Geduld! Langfristig schafft auch dies mehr Qualität für die Fahrgäste", wandte sich die Stimme beruhigend an E., und sie fuhr fort: "Grundlage dieses neuen Fahrtenangebots bildet der von der Stadt Heidelberg überarbeitete Nahverkehrsplan. Er ist als Ergebnis zahlreicher Veranstaltungen unter hoher Bürgerbeteiligung und damit als Kompromiss zwischen Stadt und Bürgern zu verstehen. Das aus dem Nahverkehrsplan entwickelte Liniennetz schließt somit verbesserte und eingeschränktere Bedienungen ein." E. hätte nun gerne nachgefragt, wie es möglich sei, daß eingeschränktere Bedienungen mehr Qualität für die Fahrgäste böten, aber die Stimme erhörte ihn nicht mehr, sondern dozierte weiter über Schwachverkehrszeiten und angenäherte Zehn-Minuten-Takte ("Einzelne Linien weichen von diesem Raster ab") sowie die
Situation in Ludwigshafen.
In seiner Not wandte sich E. an das geschulte Personal der Verkehrsbetriebe, doch das Personal war selbst verwirrt. Langsam wurde E. argwöhnisch, ob hier nicht System dahintersteckte: Vielleicht waren die Plakate mit der neuen Linienübersicht absichtlich auf schlechte Lesbarkeit hin gestaltet? Vielleicht war es gar kein Zufall, daß sich die Datei mit dem neuen Linienplan aus dem Internet, von der E. sich Trost und Stärkung erhofft hatte, erst gar nicht öffnen ließ? Je mehr E. über all dies nachsann, desto weniger schien er zu verstehen, bis er schließlich ernsthaft an seiner geistigen Verfassung zu zweifeln begann. Hörte er denn nicht bereits Stimmen? E. flüchtete sich in den nächstbesten Bus, um Ruhe zum Nachdenken zu finden, und tatsächlich: An den Fenstern der Buslinie 31 zog die schöne Landschaft Heidelbergs so beruhigend vorbei, daß E. wieder Hoffnung und Zuversicht fasste, bis sich auf einmal die Liniennummer des Busses unversehens während der Fahrt in 32 verwandelte. "Das ist nur zum Vorteil der Fahrgäste", hörte E. die Stimme noch sagen, bevor um ihn herum alles in Dunkelheit versank.
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31.01.2007, 23:35 • Link • Kommentieren