"Dieses Land wird sich verändern": Darin sind sich die Befürworter der Zuwanderung auf der Linken und die "besorgten Bürger" auf der Rechten sogar einig. Während die einen ein weiteres Mal den Untergang des Abendlandes heraufziehen sehen, erhoffen sich die anderen eine "buntere", offenere Gesellschaft, Produktivitätssteigerung durch zugewanderte Fachkräfte und die Lösung des demographischen Überalterungsproblems. In der Tat gibt es hierzulande einiges, das verbesserungswürdig wäre. Die Frage ist nur, ob die aktuelle Einwanderungswelle hier helfen kann. Denkbar ist nämlich auch ein Szenario, bei dem die Zuwanderung Folgen hat, die vielem entgegenstehen, wofür Linke eintreten und was sie sich wünschen.
Die Öffnung der Grenzen für Hunderttausende Zuwanderer ist zunächst ein beeindruckender Akt der Solidarität. Kein Wunder, daß viele Linke neuerdings ihr Herz für Frau Merkel entdecken. Doch bereits bei der Frage, wem die Solidarität in der offiziellen Flüchtlingspolitik genau gilt, wird es schwierig. Ein großer Teil der Menschen, die nach Deutschland kommen, sind politisch oder anderweitig Verfolgte, denen das Grundrecht auf Asyl zukommt, oder Menschen, die vor Kriegen fliehen. Der Rest sind Menschen, die sich ohne unmittelbare Bedrohung ein besseres Leben in Deutschland erhoffen. Der Begriff "Wirtschaftsflüchtlinge" wird meist abschätzig gebraucht. Aber es ist nichts moralisch Verwerfliches daran, aus wirtschaftlichen Gründen zu fliehen. Gefahr für Leib und Leben droht nicht nur bei politischer Verfolgung oder im Bürgerkrieg, sondern auch in einer Situation existentieller wirtschaftlicher Not. Und auch Menschen, die ihre Heimat verlassen, weil ihre Lebensumstände zwar nicht lebensbedrohlich, aber dennoch so schlecht sind, daß ihnen Auswanderung als naheliegendste Option erscheint, haben die Solidarität derjenigen verdient, denen es besser geht. Zumal der Wohlstand des Westens nicht zuletzt darauf beruht, daß woanders weniger Wohlstand herrscht, daß es Waffenexporte gibt, daß die Landwirtschaft des Südens von unseren Exporten zerstört wird. Aus dieser Perspektive ist die Unterstützung der Einwanderer auch eine Frage der Gerechtigkeit.
So weit geht der gesellschaftliche Konsens freilich nicht. Daß man Verfolgten und Kriegsflüchtlingen helfen muß, ist größtenteils unstrittig, auch bei den Rechten, die zwischen "guten" Bürgerkriegs- und "schlechten" Wirtschaftsflüchtlingen scharf trennen. Und auch dort, wo man Zuwanderung unabhängig von den konkreten Fluchtgründen generell begrüßt, herrscht nicht nur uneigennützige Solidarität: Wenn Zuwanderer den Fachkräftemangel oder die demographische Schieflage in der Altersstruktur beheben sollen, bewegt man sich auf einem schmalen Grat zwischen Hilfsbereitschaft und Egoismus und ist nahe daran, letztlich auch wieder zu trennen zwischen denen, "die uns nützen", und denen, "die uns ausnützen" (Günther Beckstein). Im übrigen muß angemerkt werden, daß Bundeskanzlerin Merkel nicht durch eine einzige moralisch anständige Entscheidung gleich zu Mutter Teresa geworden ist. Über ihre Motive weiß man nichts, und selbst, wenn dahinter kein wie auch immer geartetes Kalkül steckt, sondern einfach ein christlicher Moment der Empathie, bleibt sie die Frau, deren wahnwitzige neoliberale Politik Not und Tod (keine Übertreibung, siehe Gesundheitswesen) über Griechenland gebracht hat. Sollte sie morgen anfangen, ihre neuentdeckte Empathie auch den Griechen zuteil kommen zu lassen, würde ich noch einmal darüber nachdenken, ob sie jetzt auch "meine Kanzlerin" ist. Vorher nicht.
Ein Konsens darüber, wem eigentlich geholfen werden soll und warum, wird leider auch erschwert durch argumentative Unredlichkeit seitens mancher Befürworter der Einwanderung. Wenn man so tut, als handle es sich bei den Zuwanderen ausnahmslos um Bürgerkriegsflüchtlinge, wird man Schwierigkeiten haben zu begründen, warum auch Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen legitim ist. Wenn Berichte über Flüchtlinge standardmäßig illustriert werden mit "Familien mit kleinen Kindern und großen Kulleraugen" (
Kai Gniffke), die Mehrzahl aber alleinreisende junge Männer sind, fällt das auf und liefert denen Munition, die ohnehin schon überall Manipulation wittern. Und wenn man der Unterscheidung in nützliche und weniger nützliche Flüchtlinge pauschal entgegensetzt: "Es zählt nur eins: Sie mussten ihr Land verlassen, weil dort Krieg herrscht, sie mussten fliehen, weil ihr Leben in Gefahr war" (
Kuzmany), so ist das anständig, und es ist sympathisch, und es ist falsch. Denn "Wir müssen ihnen helfen, weil ihr Leben in Gefahr ist" gilt für viele, aber bei weitem nicht für alle, für fast alle aber gilt: "Wir sollten ihnen helfen, weil sie unsere Hilfe wollen". Das wäre solidarisch
und ehrlich.
Nur: Es steht zu befürchten, daß unter den gegenwärtigen Bedingungen keine gesamtgesellschaftliches Zunahme an Solidarität, sondern ganz im Gegenteil ein Prozeß der Entsolidarisierung stattfindet. Daß in Deutschland insgesamt mehr Wohlstand herrscht als in den Herkunftsländern der Zuwanderer, heißt nicht, daß es jedem hier Ansässigen auch wirklich wirtschaftlich gut geht. Der deutsche Wohlstand ist extrem ungleich verteilt, und eine gerechtere Verteilung ist bis auf weiteres nicht in Sicht. Eigentlich sollte der wirtschaftliche Aspekt bei der Unterstützung der Zuwanderer das geringste Problem sein. Die Frage ist aber, wer letztlich die kurz- und mittelfristigen Kosten der Zuwanderung tragen wird. Von zweistelligen Milliardenbeträgen pro Jahr ist die Rede, ein Bruchteil der Ausgaben für die "Bankenrettung", aber dennoch eine Menge Geld.
Wer ist das "Wir" im berühmten "Wir schaffen das"? In der Vergangenheit waren es nie "wir alle", sondern nur ganz Bestimmte, wenn es hieß: "Wir müssen den Gürtel enger schnallen" und "Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt". Es waren nur die sozial Schwachen. Sollte das jetzt plötzlich ganz anders sein? In der rechten Argumentation sind Hartz-IV-Empfänger auf einmal keine Sozialschmarotzer mehr, sondern arme Schweine, die zum Sozialneid auf die Flüchtlinge aufgerufen werden. Unterprivilegierte werden gegen Unterprivilegierte in Stellung gebracht, als ob die einen nur gewinnen könnten, was die anderen verlieren. Solche Verteilungskämpfe sind einfach zu schüren, und sie gehen in die völlig falsche Richtung. Denn es wäre durchaus genug Geld für alle da, das Problem ist nur, daß diejenigen, die es haben, nie aufgefordert werden, es herauszurücken. Den gleichen Denkfehler begehen aber auch diejenigen, die Zuwanderung als Königsweg zur Entlastung des Rentensystems sehen: Die Schieflage der Altersstruktur bedeutet nicht zwangsläufig, daß entweder Arbeitnehmer stärker belastet oder aber die Renten gekürzt werden müssen. Die Frage ist wieder eine der Verteilung: Wohlstand ist genug da, nur eben nicht im System der Altersversorgung.
Falls sich die optimistischen Prognosen bewahrheiten und es tatsächlich durch die Zuwanderung zu einer Wohlfahrtssteigerung kommt, wird auch dieses Mehr an Wohlstand unter den gegenwärtigen Mechanismen der Verteilung nur wenigen zugute kommen. Die Zuwanderung wird zuallererst das Heer an Ausbeutungsfähigen auf dem ohnehin schon gigantischen Niedriglohnsektor vergrößern, und es werden auch viele derer dazugehören, die jetzt noch als "Fachkräfte" zählen: weil ihre Berufs- und Universitätsabschlüsse nicht anerkannt werden, weil Sprachkenntnisse fehlen, weil man im Zweifel dann doch lieber jemand anderes nimmt. Bereits jetzt mahnen die üblichen Verdächtigen, der gerade erst eingeführte Mindestlohn müsse wieder abgeschafft werden, um die Zuwanderer in den Arbeitsmarkt zu integrieren, das Rentenalter müsse steigen, um die Integrationskosten zu finanzieren, und Sozialleistungen müßten gekürzt werden, weil das Geld angeblich nicht für alle reicht. Als Linker wird man sich eingestehen müssen, daß solche Maßnahmen, die die Ärmeren treffen und die Reichen verschonen, um ein Vielfaches wahrscheinlicher sind als eine grundlegende Änderung der Verteilungsmechanismen. Und ohne die wird die marginalisierte Unterschicht durch die Zuwanderung noch weiter wachsen, mit noch größerer Konkurrenz untereinander und – durch die verschärfte Konkurrenz und durch die Agitation der Rechtspopulisten – noch weniger Solidarität füreinander.
Neben der Kostenfrage gilt die Sorge der "besorgten Bürger" vor allem der öffentlichen Ordnung. "Ausländerkriminalität" ist ein Dauerbrenner rechter Propaganda. Statistisch ist die Aussage, Migranten seien krimineller, nicht haltbar, wenn man Faktoren wie Alter und Einkommen kontrolliert. Nicht Ausländer neigen stärker zu Delikten, sondern junge Männer mit wenig Geld. Allerdings
sind unter den Zuwanderern Zehntausende junge Männer mit wenig Geld, die allermeisten aller Wahrscheinlichkeit nach hochanständige Menschen, aber eben nicht alle. Geht man davon aus, daß der Anteil an Arschlöchern unter den Zuwanderern etwa so hoch ist wie der Anteil an Arschlöchern unter den Ansässigen, sind es eine Menge Arschlöcher, die auf einen Schlag ins Land kommen. Der Polizeigewerkschafter Rainer Wendt
warnt von "knallharten kriminellen Strukturen", die sich in einigen Flüchtlingsheimen bilden würden.
Berichte wie der, Albaner hätten in Hamburg von anderen Flüchtlingen eine Gebühr für die Benutzung der Duschräume verlangt, weisen in diese Richtung. Und in einem
Schreiben hessischer Verbände heißt es: "Diese Situation [Bedingungen der Unterbringung] spielt denjenigen Männern in die Hände, die Frauen ohnehin eine untergeordnete Rolle zuweisen und allein reisende Frauen als 'Freiwild' behandeln. Die Folge sind zahlreiche Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe, zunehmend wird auch von Zwangsprostitution berichtet. Es muss deutlich gesagt werden, dass es sich hierbei nicht um Einzelfälle handelt". Spätestens dort, wo Flüchtlinge andere Flüchtlinge ausbeuten, kommt man mit Solidarität nicht weiter.
Der traditionelle Lösungsansatz der Linken sind im weiteren Sinn sozialarbeiterische Maßnahmen, die auf Einsicht abzielen, nicht Repression. Das ist kosten- und vor allem zeitintensiv. Repressive Maßnahmen gehen schneller und sind zudem populärer, solange "Innere Sicherheit" ein Thema bleibt: Mehr Polizei, mehr Überwachung, schärfere Gesetze, Abschiebungen. Und es findet sich immer, wenn man einen braucht, irgendwo ein mutmaßlicher Terrorist, dessentwegen der Sicherheitsapparat noch weiter ausgebaut werden muß.
Natürlich gibt es Zuwanderer, deren Wertvorstellungen mit einer offenen Gesellschaft nicht kompatibel sind, auch und gerade bei Themen, die Linken am Herzen liegen: Gleichberechtigung der Geschlechter, Rechte der Schwulen und Lesben, gewaltfreie und diskursive Regelung von Konflikten. Über das Ausmaß problematischer Einstellungen weiß man nichts, daher ist es müßig, darüber zu spekulieren, bevor empirische Anhaltspunkte vorliegen; zudem werden Integrationskurse und gelebtes Miteinander sicherlich das meiste abbauen können. (Auch wenn es
Fälle gibt, bei denen das eher unwahrscheinlich erscheint.) Aber genausowenig, wie jeder zugewanderte Moslem hier Scharia und Vollverschleierung einführen möchte, wird durch Zuwanderung alleine eine tolerantere Gesellschaft entstehen.
Die beängstigendste Form von Intoleranz zeigt sich freilich bei den Gegnern der Zuwanderung. Im Netz tun sich Abgründe auf, und ein knappes Vierteljahrhundert nach Hoyerswerda brennen wieder Flüchtlingsunterkünfte. Die rechte Gewalt, die jahrelang verharmlost wurde, läßt sich mittlerweile nur noch schwer kleinreden. Auch hier sind die
Reaktionen erwartbar: "Die Koalition ist fest entschlossen, noch in den laufenden Haushaltsberatungen die Voraussetzungen für einen massiven Ausbau der Sicherheitsbehörden zu schaffen. 'Wir brauchen eine erhebliche Personalaufstockung sowohl beim Bundesamt für Verfassungsschutz als auch beim BKA', sagte SPD-Innenexperte Burkhard Lischka". Davon, Aussteigerprogramme und linke Initiativen gegen Rechts, die stets um Mittel kämpfen müssen, stärker zu fördern, war bislang nichts zu hören. Als Trost werden sich antifaschistische Gruppen immerhin über die Aufmerksamkeit des gestärkten Verfassungsschutzapparats freuen können.
Während die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl von 1993 wie eine Belohnung für die ausländerfeindlichen Anschläge Anfang der 90er Jahre erschien, sind die aktuellen Gesetzesänderungen eher Ausdruck der Überforderung der Verwaltung angesichts der großen Zahl an Asylsuchenden. Abschiebungen auf Basis des erneut verschärften Asylrechts sollen schnell durchgeführt werden; der Ausbau von Integrationsangeboten, der auch in dem Gesetzespaket enthalten ist, geht dagegen "
weniger zügig" voran.
Die sinnvollste Option zur Verringerung der Flüchtlingszahlen besteht natürlich in der "Bekämpfung der Fluchtursachen", wie es offiziell heißt. Dieser Ansatz stößt freilich dort an Grenzen, wo der westliche Wohlstand auf den Umständen beruht, die anderswo zur Flucht führen. Wer von "Bekämpfung der Fluchtursachen" spricht, meint normalerweise weder eine gerechtere globale Verteilung noch ein Exportverbot für Rüstungsgüter oder eine Ächtung geopolitischer Spielchen. Im besten Fall laufen unter diesem Titel Maßnahmen aus dem Bereich Entwicklungshilfe. Aber in einer Situation, in der eine gebetsmühlenartig beschworene stärkere "internationale Verantwortung" Deutschlands doch immer nur meint, bei fremden Kriegen mitzumachen, kann und wird auch die Massenflucht als Argument für eine weitere Militarisierung des Außenpolitik verwendet werden.
Noch weiter und noch schneller in die falsche Richtung: eine wenig beeindruckende Perspektive für die Veränderung der Gesellschaft durch die Zuwanderung. Die Flüchtlinge kann man dafür nicht verantwortlich machen: Sie können nichts für die seit Jahren komplett einseitige Wirtschafts- und Sozialpolitik, sie können nichts dafür, daß einige das Land endgültig in einen Polizeistaat verwandeln möchten, sie können nichts dafür, daß es zuviele rechte Idioten gibt.
Das alles ist natürlich keine Zwangsläufigkeit. Es kann auch sein, daß sich jetzt alle besinnen und die "Flüchtlingskrise" zum Anlaß nehmen, endlich eine menschenwürdigere und gerechtere Politik umzusetzen, daß endlich die Solidarität mit den Mitmenschen über den Profit gestellt wird, daß sich die Träume der Linken von einem besseren Land doch noch bewahrheiten. Oder es läuft wie immer. Was ist wahrscheinlicher?
Abgelegt unter: Agitprop
30.10.2015, 14:07 • Link • Kommentieren