The following post deals with this week's "strike" at SETI@Home.
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Das hier geht um Zahlen: Rechenhaftigkeit (Max Weber) ist schließlich alles im Zeitalter des Shareholder Value und der Computertechnologie. Es geht aber auch um Menschen: Die haben nämlich die unangenehme Eigenschaft, daß sie – besonders in größeren Gruppen – zu eigensinnigem Verhalten tendieren, das sich nicht immer steuern läßt. Und dann geht es noch um Aliens, aber nur ganz am Rande.
Ein Ansatz zur Suche nach außerirdischem Leben ist die Auswertung von Radiosignalen aus dem Weltall. Der Grundgedanke: Eine außerirdische Zivilisation, die intelligent genug ist, um Informationen per Funksignal zu übertragen (aber nicht intelligent genug, um darauf zu verzichten – die Menschheit befindet sich noch in diesem Stadium und schaut sich Call-In-Fernsehprogramme an), müßte entdeckt werden können, wenn es gelingt, in den Aufzeichnungen von Radioteleskopen künstlich erzeugte Signale vom kosmischen Hintergrundrauschen zu trennen. Will man einen großen Ausschnitt des Himmels und ein großes Frequenzspektrum untersuchen, ist das eine sehr rechenintensive Aufgabe, die einen einzelnen Computer gleich welcher Größe überfordern würde. Im Jahr 1999 wurde daher an der Universität von Kalifornien in Berkeley das öffentliche "
SETI@Home"-Projekt ins Leben gerufen, das kleinere Arbeitspakete an die Rechner von Freiwilligen in aller Welt über das Internet verteilt. Heute hat das Projekt eine knappe halbe Million mehr oder weniger aktiver Teilnehmer, die mit fast einer Million mit dem Projekt verbundenen Computern etwa 175 Billionen Fließkomma-Rechenoperationen pro Sekunde (175 Teraflops) durchführen (Zahlen von
BOINCstats). Um den Benutzern ein Gefühl für die geleistete Arbeit zu geben, zählt das Projekt mit. Anfangs wurde nur über die Zahl der erledigten Arbeitseinheiten jedes Benutzers Buch geführt; mittlerweile wird eine variable Anzahl von "
Credits" je nach dem Umfang der geleisteten Arbeit verteilt. Statistikseiten ermöglichen es den Teilnehmern, ihren Rang oder den Rang ihres Teams über die Zeit hinweg nachzuvollziehen. Es macht durchaus Spaß, sich die eigenen wachsenden Creditzahlen anzusehen und andere in der Rangfolge zu überholen; das Wettbewerbselement beflügelt das Engagement. Und hier fangen die Probleme an.
SETI-Credits bedeuten nichts in der "wirklichen Welt": Man kann sie nicht anfassen, man kann sie nicht essen und sich auch nichts davon kaufen. Es sind nur abstrakte (und ziemlich kompliziert definierte) Zahlen. Das hindert eine gewisse Spezies von Technikfreunden und Overclockern nicht daran, sich ganze Computerfarmen zum ausschließlichen Gebrauch für SETI (und andere Projekte verteilten Rechnens auf Berkeleys offener
BOINC-Plattform) zuzulegen, um im elektronischen Schwanzvergleich mitzuhalten. Verfolgt man die einschlägigen
Diskussionsforen, kann man sich dem Eindruck nicht verschließen, daß die Jagd nach Credits für einige den wesentlichen Lebensinhalt darstellt. Die Wissenschaft, die mit den Berechnungen betrieben wird, spielt praktisch keine Rolle mehr.
Es ist ein bekanntes Phänomen in der Organisationssoziologie, daß die Ziele einer Organisation nach einer gewissen Zeit hinter organisationsinterne Ziele zurücktreten. Solange der Creditwettbewerb dazu führt, daß immer mehr wissenschaftliche Arbeit erledigt wird, ist das unproblematisch. Vor wenigen Wochen wurde allerdings eine neue Version der SETI-Software eingeführt, die die Arbeitseinheiten gründlicher untersucht und mehr Prozessorzeit in Anspruch nimmt – und zudem die Grundlage der Creditberechnung umstellt. Unter bestimmten Bedingungen gibt es nun weniger Credits je Zeiteinheit. Auf jeden Fall betroffen ist aber der "
Recent Average Credit", eine Maßeinheit, die bei kompetitiven Teilnehmern besonders beliebt ist; vielleicht, weil sie so abstrakt berechnet wird, daß sie fast gar nichts mehr aussagt. Das Wehklagen in den Foren war groß, einzelne Stimmen der Vernunft verloren. Bereits damals kam die Idee eines Streiks auf, um der Forderung nach mehr kostbaren Credits Nachdruck zu verleihen: Man dürfe nicht die Freiwilligen, die am meisten leisten (und die von dem neuen Creditsystem überdurchschnittlich stark getroffen wurden), auch noch dafür bestrafen; das Projektteam habe auf die Bedürfnisse der Teilnehmer, auf die es schließlich angewiesen sei, einzugehen! Tatsächlich kommen die Berkeley-Mitarbeiter mit der großen Anzahl an Freiwilligen, ihrem Eigenleben und ihrer Gruppendynamik nicht immer gut zurecht. Die Vernachlässigung der Teilnehmerpflege bei der endgültigen Umstellung vom "klassischen" SETI (mit seinen einst über fünf Millionen registrierten Benutzern) auf die BOINC-Plattform Ende letzten Jahres ist legendär, wenngleich sich die Kommunikation seither etwas verbessert hat.
Jetzt endlich ist ein eher
obskurer Anlaß zum Streiken gefunden worden: Ein freiwilliger Entwickler hat die Schnauze voll, nachdem ihm unter anderem von einem weiteren Benutzer öffentlich und über die Maßen hartnäckig
Schummelei vorgeworfen wurde. Dabei ging es – man ahnt es – um Credits. Seit Mitternacht (UTC) befinden sich nun, wenn alles klappt, einige der größten Teams im
Ausstand, der Streik ist auf eine Woche angesetzt. Die Wellen auf den Diskussionsforen schlagen derweil hoch: Gegenseitige Beschimpfungen zwischen "Creditnutten" und "Nullern", die es am liebsten sähen, wenn es gar keine ablenkenden Credits geben würde, sind an der Tagesordnung, die Moderatoren heftig im Einsatz. Wie verschiedene Benutzer angesichts der kindergartenartigen Diskussionskultur feststellten: Es bleibt nur zu hoffen, daß die Außerirdischen, die man eigentlich sucht, die Foren nicht mitlesen. Wenn die Menschen so sind, gäbe es allen Grund, nicht gefunden werden zu wollen.
Abgelegt unter: Zeitgeschichte
05.06.2006, 21:31 • Link • Kommentieren