Die WM stimmt nostalgisch, ist es doch trotz ständig wechselnder Spielernamen im wesentlichen immer das gleiche Ritual, das hier alle vier Jahre abläuft. Daran können auch vereinzelte Manifestationen einer kühler werdenden Zeit wie der FIFA-Markenwahn oder die durchrationalisierte taktische Vorbereitung der Teams nichts ändern. Das Golden Goal ist dankenswerterweise wieder in der Rumpelkammer der Fußballmodernisierung verschwunden, und die jedes Mal pünktlich zur Finalrunde lautwerdenden Rufe nach einer technischen oder personellen Erneuerung des Schiedsrichtersystems gehören mittlerweile selbst zum Ritual, statt daß sie irgendwelche Konsequenzen nach sich ziehen.
Die Erinnerung an goldene Jugendzeiten motiviert derweil zahlreiche erwachsene Sammler von Panini- und sonstigen Fußballbildchen. Selbiges war leider nie mein Ding, dafür entdecke ich an ganz anderer Stelle Relikte aus der Vergangenheit in meinem Tagesablauf. Es ist dies eine besonders vergangene Vergangenheit: die mythische Ära vor der Verbreitung des Internets. Seit Beginn der WM kommt der gute alte Videotext bei mir zu neuen Ehren, und auch Informationen auf gedrucktem Papier finde ich dem Ereignis weitaus angemessener als solche aus dem Netz. Jeder WM-Spielplan beweist die Überlegenheit dieses Mediums in Fußballangelegenheiten. Irgendwie haben auch die WM-Ausgaben von Spiegel, Kicker und Elf Freunde den Weg in meinen Haushalt gefunden, und ein Spiel ist für mich erst mit der Analyse aus der Rundschau richtig abgeschlossen, selbst wenn ich zwei Tage darauf warten muß.
Umso trauriger stimmt mich heute das einmütige Schweiz-Bashing von FR und taz. Die wollten doch nur spielen! Natürlich war das Match gegen die Ukraine unterirdisch mies, aber wie für die DDR gilt auch hier: Es war nicht alles schlecht! Zwei WM-Rekorde: Ausscheiden ohne Gegentor und die Unfähigkeit eines einzigen erfolgreichen Elfmeters – das ist doch auch was. Im persönlichen Bereich läßt sich der Situation ebenfalls Positives abgewinnen:
Partnerschaftliche Spannungen eines möglichen Halbfinales Deutschland-Schweiz konnten bereits im Ansatz vermieden werden. In den deutschen Medien stehen der Schweiz und den Schweizern allerdings harte Zeiten bevor, selbst in der Lindenstraße: Der kellnernde Primat aus dem Restaurant "Akropolis", von Beginn an kein Sympathieträger, geht einer neuen Hochphase entgegen, und auch der liebenswerte Hallodri Alex kommt nicht mehr besonders gut weg. Die taz titelt heute sogar apodiktisch: "
Die Schweiz ist kein Vorbild" – aber halt: Es geht nur ums Gesundheitssystem. Nochmal Glück gehabt.